Anika Thym und Matthias Luterbach

«Die Revision des Gesetzes ist für alle eine Chance»

Die Revision des Basler Gleichstellungsgesetzes hat aufgrund der darin vorgesehenen mehrdimensionalen Definition von «Geschlecht» zu einer kontroversen Medienberichterstattung geführt. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, ob mit dem neuen kantonalen Gleichstellungsgesetz die Kategorien «Frau» und «Mann» abgeschafft werden. Details dazu hier.

Um die zahlreichen Fragen zu Geschlecht & Gesetz, die mich im Zusammenhang mit der Medienberichterstattung erreichten zu klären, habe ich Anika Thym und Matthias Luterbach um eine Einschätzung der Verfassungskonformität des Entwurfs gebeten. Anika Thym und Matthias Luterbach sind Forscher:innen am Zentrum für Gender Studies der Universität Basel.

1. Die Revision des Gleichstellungsgesetzes hat sowas wie einen Kulturkampf um Geschlecht losgetreten. Sind Sie auch überrascht?

Was du als Kulturkampf ansprichst, nehmen wir vor allem in Situationen wie an der Fasnacht wahr, wo Geschlecht ja ein grosses Thema war und wir sehr unterschiedliche auch teilweise unversöhnliche Haltungen hörten. Das gehört in einem bestimmten Rahmen auch zum gesellschaftlichen Prozess. Jedenfalls sind tatsächlich in Bezug auf Geschlecht aktuell sehr viele jahrelang etablierte Selbstverständlichkeiten von sozialen Bewegungen infrage gestellt worden: Die Ungleichheit von Frauen und Männern etwa in Bezug auf den Lohn oder die familiale Arbeitsteilung, die gesellschaftliche Ächtung der Homosexualität und in den letzten Jahren auch die Zweigeschlechtlichkeit. Dass diese Veränderungen derart heftige Gegenreaktionen auslösen, überrascht uns in diesem Sinne nicht, wir wissen und lehren ja unseren Studierenden, wie wirkmächtig diese Vorstellungen sind. Und wie sehr sie auch Teil eines Selbstverständnisses in unserer Gesellschaft waren und noch immer sind. Uns überrascht aber schon immer wieder, wie heftig diese Debatten geführt werden und wie wenig Menschen bereit sind, der anderen Position jeweils auch mit Verständnis zu begegnen. 

2. Es fällt auf, dass sich auch feministische Kreise nicht einig sind, wie viel Gleichstellunug es für Queers denn nun sein soll. Werden Frauen mit diesem Gesetz etwas verlieren?

Ob Frauen mit der Revision des Gesetzes etwas verlieren, oder ihre Gleichstellungsanliegen relativiert werden, oder die Revision ermöglicht, Gleichstellung umfassender zu verstehen als bisher, hängt auch davon ab, wie das neue Gleichstellungsgesetz letztlich formuliert und begründet wird. Daher haben wir uns auch in den aktuellen Prozess eingebracht. Wir sind der Auffassung, dass es sehr zentral ist, welche Formulierungen man wählt. Wir haben aus unserer Sicht versucht einen Vorschlag zu machen, der die Revision als Erweiterung des bisherigen Gleichstellungsauftrags begreift. Das heisst bisherige Fragen, besonders die Ungleichheit zwischen Frau und Mann stellen für uns nach wie vor ein zentrales Problem dar, gleichzeitig kommen neue Fragen dazu. Anfänglich war ja auch noch von der Überwindung der Binarität die Rede, das sehen wir sehr skeptisch. Denn auch die Gleichstellung von binären Menschen ist nicht nur noch nicht erreicht, bestimmten Problemen werden wir uns auch erst langsam so richtig bewusst.

3. Welche Probleme sind das?

Zum Beispiel wenn immer mehr Väter eine bestimmte Zeit ihres Lebens mit ihren Kindern verbringen wollen, dies aber Arbeitgeber nicht möchten und gewisse Karrieren diese Phase nicht erlauben. Das bringt nochmal eine neue Perspektive auf Vereinbarkeitsprobleme. Oder wir nehmen bei den Vätern wahr, dass sie in ihrer Zeit mit den Kindern am Suchen sind, wie sie Nähe und eine gute Verständigung mit ihren Kindern leben können und merken, dass ihre Männlichkeitsvorstellungen sie hindern. Sie wollen und müssen nochmals neue Kompetenzen lernen. Für heterosexuelle Mütter heissen die Veränderung oft auch, Männer den familialen Bereich mitgestalten zu lassen, was auch für sie neue Fragen mit sich bringt. Ein anderes Thema, das Frauen wieder zunehmend problematisieren, ist, wie sehr Geschlechterungleichheit auch in unserer Sexualität festgeschrieben ist. Wie wir auch hier vielfältigere und gleichberechtigte Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit schaffen können, ist eine herausfordernde gesellschaftliche Aufgabe. Überhaupt hat die aktuelle Debatte um die Revision des Sexualstrafrechts ja gezeigt, wie wir als Gesellschaft erst am Anfang der Realisierung einer gleichberechtigten und auf Konsens basierenden Sexualität stehen.

4. Sie begrüssen beide das Gesetz. Warum?

Geschlecht und Sexualität wurden in den letzten Jahren vielfältiger, und es gibt eine grössere Offenheit, sodass diese auch immer mehr gelebt werden kann. Dadurch werden auch Gleichstellungsfragen komplexer und so auch unser Verständnis von Geschlecht. Die Lebensweisen haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert, es ist höchste Zeit, dass auch auf der Ebene des Gesetzes eine Anpassung an die veränderte Realität stattfindet. Das tut das neue Gleichstellungsgesetz. Diese Weiterentwicklung ist enorm wichtig, um Gleichstellungsanliegen besser bearbeiten zu können.

5. Sie haben sich in der Vernehmlassung eingebracht, das ist eher ungewöhnlich für das Zentrum für Gender Studies, oder? Was hat euch dazu bewegt?

Wir haben uns ja persönlich als Wissenschaftler:innen eingebracht, die am Zentrum Gender Studies arbeiten und promovieren. In unserem Verständnis von Wissenschaft sollte diese sich in öffentliche Debatten mit ihrer Expertise einbringen, das tun wir beide immer wieder, beispielsweise in öffentlichen Medien. Matthias war ausserdem auch in der Gleichstellungskommission Basel-Stadt und hat daher von Anfang an die Entwicklung des neuen Geseztes mitverfolgt. Gerade die Geschlechterforschung hatte auch in ihrem Selbstverständnis als Wissenschaft nie die Vorstellung, dass Wissenschaft etwas ist, das von der Gesellschaft losgelöst im Elfenbeinturm stattfindet. Das teilen wir. 

6. Besonders die Ratschlagsversion des Zweckartikels scheint die Gemüter zu erhitzen. Ist er missraten?

Wir sehen es positiv, dass nun nach der Vernehmlassung im Ratschlag die konkreten Dimensionen benannt sind. Denn wenn man Differenzen nicht benennt, sind Ungleichheiten und Diskriminierungen auch kaum mehr zu beanstanden. Wie können Ungleichheit und Diskriminierung entgegengewirkt werden, wenn wir nicht benennen, worin die Ungleichheit besteht? Unser Vorschlag zielt vor allem auf eine stärkere Systematisierung, eine klare Unterscheidung zwischen Aspekten, die die Geschlechtsidenitität betreffen und Aspekten die die sexuelle Orientierung betreffen und dabei eben alle aktuell relevanten Dimensionen zu benennen. Wir haben daher folgende Formulierung als Vorschlag ausgearbeitet:

«Dieses Gesetz hat zum Zweck, die Verwirklichung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung in Bezug auf Geschlecht und sexuelle Orientierung in allen Lebensbereichen zu fördern und Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, namentlich von cis und trans Frauen und Männern, von intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen sowie von heterosexuellen, lesbischen, schwulen, bisexuellen und asexuellen Personen, zu bekämpfen».

Dies hat zwar den Nachteil, dass diese Kategorien gerade aktuell stark im Fluss sind und die Gefahr besteht, dass es in ein paar Jahren wieder eine Revision braucht. Gleichzeitig ist es ein zentrales Anliegen von Gleichstellung, die verschiedenen Gruppen entlang der Unterscheidungsdimensionen Geschlecht und Sexualität zu berücksichtigen und sich für ihre Rechte einzusetzen. Das macht es auch für nichtbinäre Personen einfacher, keinen Geschlechtseintrag oder eine angemessene Repräsentation und Ansprache in offiziellen Dokumemten zu erhalten, wie es in einigen Ländern schon geschehen ist. Auch intergeschlechtliche Menschen sind bis heute rechtlich nur ungenügend vor Diskriminierung geschützt.

7. Das Positionspapier der queeren Community fordert allerdings die Rückkehr zum Zweckartikel der Vernehmlassungsversion, in dem keine Identitäten genannt werden. Wäre das auch ein Weg?

Wir können das Anliegen, möglichst viel auch offen zu halten und damit möglichst inklusiv zu sein, gut verstehen. Aus unserer Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart halten wir dies aber nicht für eine gute Idee. Es ist oft nicht leicht, überhaupt eine Sprache zu finden für die Diskriminierung von Frauen, noch schwieriger Gehör dafür zu finden. Nach wie vor werden Frauen darin oft nicht ernst genommen. Zur Erinnerung: Simone de Beauvoir war 1949, als sie Le Deuxième Sexe schrieb bereits mit dem Vorwurf von der aufgeklärten Seite konfrontiert, sie solle doch nicht mehr ständig von ‚Frauen‘ schreiben, dieses ewige benennen der Geschlechterdifferenz sei rückständig, Frauen seien doch auch Menschen und die Kategorie ‚Frauen‘ im Grunde willkürlich. Erst durch das insistieren von ihr und vielen anderen am Begriff, konnte aber das Unrecht, das Frauen in ihrer Gesellschaft erleben, aufgezeigt werden. Dies hat dazu geführt, dass Frauen heute über deutlich mehr Rechte und Anerkennung verfügen als damals.

Wenn man nun aufgrund des Bedürfnisses, keine Festschreibungen mehr zu machen, insgesamt keine Sprache für die real gelebten Unterschiede mehr zur Verfügung hat, was ja teilweise in der Tat das Ziel dieser Vorstösse ist, dann sehen wir eine grosse Gefahr, dass etwa Frauen ihre Erfahrungen mit Diskriminierungen nicht angemessen öffentlich zur Geltung bringen können. Und gleiches gilt für spezifische Diskriminierung, Marginalisierung und Gewalt, die mit Nichtbinarität, Intergeschlechtlichkeit, Transgeschlechtlichkeit und Sexualität zusammenhängen. Die Idee von Gruppenrechten ist ja gerade, dass bestimmte Gruppen bestimmte Rechtsansprüche geltend machen können, um der bestimmten Diskriminierung entgegenzuwirken, die sie erfahren.

8. Aber schreibt man damit nicht auch Kategorien fest?

Es ist gewissermassen ein unlösbares Problem: Sobald ich etwas ausspreche, benenne ich nicht nur was ist, ich lenke die Aufmerksamkeit auch auf etwas, mache etwas fass- und greifbar, ordne etwas ein und lasse andere Kategorien gleichzeitig weg. Wenn ich sage, „Männer“ dann benenne ich nicht nur, ich bringe die Gruppe auch ein kleines bisschen mithervor, mache sie relevant. Wir sind der Meinung, solange gesellschaftliche Unterschiede, und zwar hierarchische Unterschiede, bezogen auf Geschlecht und Sexualität für unseren Alltag so prägend sind, (Geschlecht, die binären und die nichtbinären Geschlechtsidentitäten so zentral Teil unseres alltäglichen erlebens und erfahrens sind,) gehören sie auch benannt. Geschlecht ist nach wie vor das erste, was bei Babys in Erfahrung gebracht wird, und wenn wir auf eine Person treffen, deren Geschlecht wir nicht einordnen können, ist es oft erstmal irritierend. Auch wenn die Entwicklungen in den letzten Jahren doch sehr rasant und grundlegend waren: Dass Frauen und Männer in absehbarer Zeit gar keine verständlichen Vorstellungen unseres Lebens mehr sind, davon gehen wir nicht aus. Darüberhinaus: Unsere Vision wäre auch eher eine der Vervielfältigung von Geschlecht und Sexualität, in der es auch vielfältige Männer und Frauen sowie andere Geschlechter gibt, für die wir vielleicht erst noch eine Sprache finden werden.

9. Das Gesetz ist also auch für den bisherigen Gleichstellungsauftrag eine Chance?

Du meinst für Gleichstellungsanliegen von heterosexuellen cis Männern und Frauen, die bisher im Gleichstellungsartikel im Fokus stehen? Genau. Denn auch sie leben Geschlecht und Sexualität oft nicht mehr entlang der oft engen und rigiden Vorstellungen, die vor einigen Jahrzehnten noch dominant waren. Das verändert auch die Arbeitswelt, die Anforderungen an Arbeitsmodelle und Fragen der Vereinbarkeit, es wird neu um Fragen der Erziehung von Kindern und deren Betreuung diskutiert, und es werden auch Veränderungen in der Sexualität angestossen. Zudem sind ja viele cis Männer und Frauen auch benachteiligt, wenn sie nicht heterosexuell sind. Weiter macht es auch für heterosexuelle Menschen einen Unterschied, ob sie beim Gedanken an ein mögliches homosexuelle Begehren Angst und Scham erleben oder dem mit einer offenen Neugierde nachgehen können. 

Darüber hinaus sollte aus unserer Sicht Antidiskriminierung und Gleichstellung für alle Geschlechter und Sexualität gelten. Für jene, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben anstreben, ist es ja auch unangenehm, oder kann schambehaftet sein, Privilegien zu erhalten, die anderen vorenthalten werden. Sich gemeinsam für die Gleichstellung aller und in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit zu engagieren, kann eine Gesellschaft auch zusammen bringen, und viele Spannungen entspannen.

10. Wird mit dem Gesetz die Zweigeschlechtlichkeit also nicht abgeschaft?

Gesetze haben eine grosse Wirkmächtigkeit, aber Gesetze alleine haben nicht die Macht, gesellschaftliche Lebensweisen zu verändern. Das ist immer ein Zusammenspiel zwischen der gelebten Praxis und Gewohnheitsrecht, also was wir im Alltag als fair oder unfair empfinden, und dem Gesetz. Wir halten es aber wie gesagt für wichtig, die gelebte Vielfalt von Geschlecht und Sexualität auch im Gesetz zu benennen. Denn die Rechtslage spielt eine grosse Rolle und kann sehr unterstützend sein, wenn es darum geht, die gleichberechtigte Teilhabe aller zu ermöglichen. Und das Problem, das wir ja aktuell haben, ist dass Personen häufiger komisch angeschaut werden, weniger Lohn bekommen, oder Gewalt erfahren, wenn sie nicht männlich, nicht heterosexuell und nicht cis sind. Im Sinne der Menschenrechte braucht es hier Schutz, Unterstützung und einen gesellschaftlichen Wandel, der mit allgemeinen Formulierungen nicht garantiert werden kann.

Ausserdem:
10 Fragen zum Gesetz an Elisabeth Joller, Rechtsanwältin
10 Fragen zu Geschlecht an Dr. David Garcia Nuñez, Psychiater

Hintergrund
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Die Fragen gestellt hat Johannes Sieber.