David Garçia - Gesetzestexte sind von enormer Wichtigkeit

«Gesetzestexte sind von enormer Wichtigkeit»

Die Revision des Basler Gleichstellungsgesetzes hat aufgrund der darin vorgesehenen mehrdimensionalen Definition von «Geschlecht» zu einer kontroversen Medienberichterstattung geführt. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, ob mit dem neuen kantonalen Gleichstellungsgesetz die Kategorien «Frau» und «Mann» abgeschafft werden. Details dazu hier.

Um die zahlreichen Fragen zu Geschlecht & Gesetz, die mich im Zusammenhang mit der Medienberichterstattung erreichten zu klären, habe ich Dr. David Garcia Nuñez um eine Einschätzung gebeten. Dr. David Garcia Nuñez ist Psychiater und Leiter des Innovationsfokus Geschlechtervarianz am Unispital Basel.

1. Gretchenfrage: Gibt es mehr als zwei Geschlechter?

Dr. David Garcia Nuñez: Die Antwort hängt von der Definition von «Geschlecht» ab. Wenn wir «Geschlecht» als reine Reproduktionsfunktion definieren, dann lautet die Antwort zwei (Eizellen- vs. Spermienproduzent:innen). Wenn wir den gesamten Körper betrachten, dann kann eine gewisse Diversität beobachtet werden, die sich aber in manchen Bereichen optisch auf eine Geschlechterbinarität (z. B. Klitoris vs. Eichel) reduzieren lässt. Wenn wir «Geschlecht» aber auch unsere psychischen und sozialen Funktionen ausdehnen, dann explodiert die Anzahl Geschlechter. Dann gibt es so viele Geschlechter, wie es Menschen auf der Welt gab, gibt und geben wird. Geschlecht ist dann ein Ausdruck unserer menschlichen Einzigartigkeit.

2. Angenommen die Biologie würde das Geschlecht eines Menschen determinieren, wäre die Bestimmung so eindeutig, wie das behauptet wird?

Die Biologie bestimmt immer das Geschlecht, jedoch ist keine Einzeltäterin. Sie bestimmt zweifelsohne das körperliche Geschlecht und wirkt sich auch auf unsere Psyche und Verhalten. Umgekehrt wird die Biologie aber auch durch psychologische und soziale Phänomene beeinflusst. In diesem Sinne ist die Bestimmung des «biologischen» Geschlechts eines Menschen gar nicht so einfach. Denn mit jeder Bestimmung kommen psychische und soziale Untertöne mit. Denken Sie beispielsweise an die Geschlechterbestimmung bei Geburt. Viele sind der Meinung, dass das eine «biologische» Geschlechterdeterminierung sei, da sie anhand des Aussehens, der Materialität der Genitalien geschieht. In Tat und Wahrheit hat das aber nur wenig mit Biologie zu tun. Eine biologische Geschlechterbestimmung würde beinhalten, dass wir bei Geburt die Chromosomen, die Hormonspiegel, die Lage und den Funktionsgrad der Reproduktionsorgane bestimmen würden. Das alles machen wir aber in der Medizin nur äusserst selten. Nämlich bei jenen Menschen, die bei Geburt unseren (biologisch, psychisch und sozial definierten) Normalitätsparameter nicht entsprechen. Bei diesen – und nicht einmal bei allen – Kindern, die eine Variation der Geschlechtsentwicklung aufzeigen, wird diese «biologische» Geschlechterdiagnostik betrieben. Bei den anderen wird angenommen, dass sie der «Norm» entsprechen. Sprich: Dass das äussere Merkmal einer Vulva mit einer weiblichen und ein vorliegender Penis mit einer männlichen Geschlechtsidentität übereinstimmen wird. Diese Norm ist aber nicht «biologisch», sondern psychisch und sozial definiert. Das sind diese Untertöne, die ich vorhin meinte. Die Frage an der Stelle ist jedoch, ob diese Art der Geschlechterdeterminierung zweckmässig ist. Die Zahlen zeigen uns, dass wir damit eine Treffquote von 95% – 98% erreichen. Das ist nicht schlecht, aber bei Weitem nicht perfekt. Wer von uns würde beispielsweise fliegen, wenn wir wüssten, dass jedes zweihundertste Flugzeug mit absoluter Sicherheit abstürzen wird?

3. Die Geschlechtsidentität ist für viele schwer fassbar. Warum?

Die Geschlechtsidentität ist schwer fassbar, aber auch sehr simpel. Wenn wir Menschen danach fragen, wie sie ihre Geschlechtsidentität definieren, dann haben die Wenigsten ein Problem damit eine zu nennen. Das schwierige besteht darin, sich der eigenen Geschlechtsidentität bewusst zu werden. Das hängt mit einem gesellschaftlichen Mechanismus zusammen, welches wir als die «cisheteronormative Matrix» bezeichnen. Es ist ein schwieriges Wort, ich weiss. Letztlich besagt es, dass wir alle ständig, implizit und explizit, so benehmen, verhalten und fühlen, dass wir nicht über das Geschlecht nachdenken müssen. In diesem Sinne haben wir zum Geschlecht ein ähnliches Verhältnis wie zum Geld: Darüber spricht man nicht. Das hat man einfach.

Nun kann es natürlich passieren, dass sie sich als Person nicht so wohl in der Matrix fühlen. Die Normen, welche für die Mehrheit funktionieren, verursachen bei ihnen Spannungen. Die Gleichungen Vulva gleich Frausein gleich weibliche Geschlechtsrolle bzw. Penis gleich Mannsein gleich männliche Geschlechtsrolle verlieren damit ihre Gültigkeit und verursachen bei der betreffenden Person eine sog. «Geschlechterspannung». Solche kennen wir alle, da wir immer wieder in Konfrontation mit der Matrix geraten. Wenn das permanent passiert und sich diese Spannungen nicht mehr spontan lösen können, dann sprechen wir von «Geschlechtsdysphorie». Und diese ist plagend. Viele trans Personen erleben solche geschlechtsdysphorische Situationen im Alltag, sei es am eigenen Körper, aber insbesondere in Konfrontation mit der Gesellschaft und den eigenen normativen Geschlechtervorstellungen. Und weil nur die wenigsten von uns Leiden als etwas Strebsames erachten, gelangen diese Menschen früher oder später zur Einsicht, dass sie etwas in ihrem Leben ändern müssen. Das ist der Moment, wo sie sich für eine soziale und/oder medizinische Transition entscheiden.

4. In den Medien war kürzlich davon die Rede, dass trans ein Trend sei. Wie viele Menschen beraten Sie am Unispital Basel. Wurden es mehr?

Geschlechtsdysphorie stellt keinen Trend dar. Alle Menschen wollen grundsätzlich ein gutes Leben führen, auch in Sachen Geschlecht. Der Punkt ist mehr, ob die Mehrheit – die 95%, von denen ich zu Beginn sprach – bereit sind, dass inter und trans Menschen ihre geschlechtliche Entwicklung in einer diskriminierungsfreien Umgebung durchlaufen können oder ob wir uns als Gesellschaft in den Kopf setzen, dass solche «Nicht-Normativitäten» ausgelöscht gehören. Westliche Gesellschaften und ihre medizinischen Institutionen an der Spitze haben während mehrere Jahrhunderte das zweite Modell verfolgt. Inter und trans Menschen tauchten nur in den Spitälern auf, um «behandelt», «repariert», «normalisiert» zu werden. Manchmal sogar gegen deren eigenen Willen. Unter solchen Umständen darf sich niemand wundern, dass die Behandlungszahlen minim waren. Als ich im Jahr 2008 in diesem Gebiet anfing, hatten wir eine Anmeldung alle 3 Monaten.

Im Verlauf der letzten 25 Jahren hat die Medizin, die Psychiatrie, die Gesellschaft vieles über «Geschlecht» gelernt. Wir haben gelernt, mit und nicht nur über inter und trans Personen zu sprechen. So wie das andere Medizinfächer schon immer gemacht haben. Wir haben von den Erkenntnissen aus den Gender und Queer Studies gelernt. Wir haben verstanden, dass wir keine Hürde, sondern eine Hilfe im Leben von diesen Menschen sein wollen und müssen. Dieser Paradigmenwechsel hat zusammen mit der Verbesserung unserer Geschlechtermodelle dazu geführt, dass inter und trans Menschen uns vertrauen. Der Innovations-Focus Geschlechtervarianz ist führend bei dieser geschlechtertheoretischen, aber auch medizin-ethischen Veränderung. Unsere Glaubwürdigkeit und das gewonnen Vertrauen führen dazu, dass im 2023 wöchentlich 3-5 neue Personen gelangen, die sich eine Beratung und/oder Unterstützung durch unser multiprofessionelles und interdisziplinäres Zentrum wünschen.

5. Der Ratschlag der Regierung sieht vor, das Verständnis von Geschlecht offen zu definieren. Ist das ihrer Ansicht nach gelungen?

Gesetzestexte sind auf diesem Feld von enormer Wichtigkeit. Unser geschlechtliches Leben wird durch explizite und implizite «Geschlechtergesetze» bestimmt. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass Gesetze nicht alle zwei Wochen geändert, sondern mehrere Jahre bis Jahrzehnte (macht-)wirksam sind. In diesem Sinne würde ich jeder Regierung empfehlen, eine möglichst offene Geschlechterdefinition zu verwenden.

6. In der Vernehmlassungsversion wurde auch der Zweck des Gesetzes mit «Geschlecht und sexuelle Orientierung» offen formuliert. Nach Widerstand aus konservativen Kreisen ist hier wieder von Frauen und Männern und LGBTIQ die Rede. Was ist daran problematisch?

Aus medizinischer und sexualwissenschaftlicher Sicht wäre das ein Rückschritt. Ein Gleichstellungsgesetz sollte m. E. dem Schutz von all denjenigen, die unter den normativen Matrixrädern kommen, dienen. Ebenso müsste es die Prävention vor all den aggressiven Auswüchsen der aktuellen (hyper-)normativen Geschlechterordnung gewährleisten. Weder die Matrix noch ihre Mechanismen lassen sich immer in schönen Begriffen einordnen. Manchmal geht es in einem Gesetz darum sexistische Praktiken zu verbieten und bestrafen, manchmal den grassierenden Genderismus zurückzustutzen und manchmal wird es darum gehen die Opfer von Homo-, Bi-, Trans-, Inter- und Queerphobie schlichtweg zu schützen. Allerdings wird viel häufiger der Fall sein, dass alle diese Probleme zusammenfliessen und sich kaum voneinander trennen lassen. Wenn andere Achsen wie «Race» oder die soziale Stellung der Betroffenen dazu gedacht werden, dann explodiert die Komplexität und dann wird ein eng gefasstes juristisches Geschlechterkonzept selbst zum Problem. Daher wäre die spezifische Nennung der binären Hauptgeschlechter eine etwas Orwellsche Situation. Als würde der Staat sagen: «Alle Geschlechter sind gleich. Manche sind aber gleicher».

7. Für Sie ist der aktuelle Zweckartikel also auch missraten?

Das liegt nicht an mir zu sagen. Ich sage einfach, dass ein solches binär fixiertes Gesetz weit hinter ausländischen und inländischen Standards fallen würde. Das Einführen von «Opferkategorien» hat bisher nie gut funktioniert. In Anbetracht dessen, dass solche Gesetzesänderungsprozesse fast einem Generationenereignis gleichkommen, frage ich mich zudem: Warum sollte sich der Kanton Basel-Stadt freiwillig nur ein mittelmässiges Gesetz verpassen, wenn er auch ein sehr gutes haben könnte? Oder provokativer gesagt: Will die Stadt Basel in dieser Sache Forfait geben und wirklich hinter die Stadt Zürich fallen?

8. Der Widerstand aus konservativen Kreisen ist gross. Gegnerinnen finden z. B. «Wir sind absolut gegen die Ausgrenzung von Minderheiten, aber sie gehören unserer Meinung nach nicht in ein Gleichstellungsgesetz.». Was ist an dieser Haltung problematisch?

Diese Priorisierung der Gruppen der Menschen, um welche sich der Staat kümmern soll, reproduziert genau jene Mechanismen, vor welchen ein Gleichstellungsgesetz schützen sollte. Es macht doch keinen Sinn, wenn wir wider aller Fakten davon ausgehen, dass alle Frauen in der Schweiz unter denselben sexistischen Mechanismen und stets im selben Ausmass darunter leiden, während alle Männer immer und ausschliesslich der Profiteure sind. Ein einfacher Blick zum Bundesrat, wo mächtige cis Frauen sitzen, und zu einer Strasse, wo ein trans maskuliner Obdachlosen lebt, offenbart bestens, dass solche Gleichungen niemals die Realitäten in unserem Land erfassen und korrigieren können. Die Veranstaltung solcher «Opferolympiaden», bei denen es darum geht, möglichst viele diskriminierte Identitäten vorzuweisen, um an die patriarchale Medaille zu gelangen, treiben genau jene «Partialisierung der Geschlechter» voran, welche u. a. von konservativen Kreisen kritisiert wird. Ein Gleichstellungsgesetz sollte dazu dienen, mit einem möglichst weitem Geschlechterbegriff alle Menschen darin zu unterstützen, dass sie im Fall der Fälle ihre Rechte im Alltag schützen bzw. durchsetzen können. Das geschieht, indem ein solches Gesetz Rahmenbedingungen, Wege und Methoden nennt, um mit den permanent stattfindenden cisheteronormativen (Mikro-)Aggressionen umgehen zu können. Staatlich geförderte Wettbewerbe um die grössten Diskriminierungswunden zwischen den verschiedenen Geschlechterklassen braucht niemand von uns.

9. Als Psychiater müssten Sie die Ängste der Gegnerinnen erklären können. Wagen sie eine Ferndiagnose?

Das mache ich natürlich nicht. Jedes Gesetz, jede medizinische Behandlung, alles in unserer Welt ist kritisierbar. Und ein Gleichstellungsgesetz, welches per se eine Sichtbarmachung von diskriminierenden Matrixmechanismen und der dahinter liegenden Machtmechanismen darstellt, erst recht. Diese Kritik ist in diesem Sinn nicht pathologisch, sondern Teil eines demokratischen, wenn auch teilweise schmerzlichen Prozesses. Ich weiss auch nicht, ob die «Gegner:innen» aus Angst, Unwissen oder vielleicht auch aus Wut, dass sich in den letzten Jahrzehnten in der Gleichstellung der binären Geschlechter derart wenig bewegt hat, handeln. Gleichwohl merke ich anhand ihrer Aussagen, dass manche dieser Personen angesichts der neu oder vermehrt sichtbaren Minderheiten vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Situation konfrontiert sind, nicht automatisch zur «Geschlechtsminderheit» zu gehören. Viele Automatismen, Schutzreflexe, Standardpositionen funktionieren plötzlich nicht mehr. In dieser Unübersichtlichkeit, um die eigene Haltung ringen zu müssen, finde ich verständlich und sogar notwendig. In solchen Situationen können aufgeklärte, feministische Positionen sehr wichtig sein. Sie schützen uns davor, jenes zu machen, was der erste Impuls wäre: Eine unüberwindbare Grenze zur kleineren Minderheit unter uns zu stellen, in der Hoffnung so gerettet zu werden. Diese Exklusivität hilft nur sehr kurzfristig, denn oben gibt es bereits die nächste Gruppe, die auch so gegen uns handelt. Oder anders gesagt: Die Identifikation mit den Aggressor:innen vermag kurzfristig wirken, zementiert jedoch langfristig das Ursprungsproblem.

10. Sind die Verlustängste der Gegnerinnen begründet?

Wie gesagt, ich weiss nicht, welche Emotionen, diese Personen bewegen. Eines ist jedoch sicher: Die Diskriminierung von Frauen wird nicht durch trans oder inter Personen vorangetrieben. Ähnliche Gesetze oder Entwicklungen haben weder in Argentinien noch in Spanien noch in Zürich dazu geführt, dass Frauen oder ihre Räume ausgelöscht wurden. So mächtig sind weder die verschiedenen LGBTIQ+-Communities noch die Medizin noch irgendein Gesetz. Die Macht der Matrix kann nie überschätzt werden. Am Schluss wird sie immer noch dastehen, aber hoffentlich mit mehr Löchern und Freiräume, so dass jene, welche solche brauchen, um ihre Spannungen loslassen zu können, sie auch finden. Davon profitieren homosexuelle cis Frauen, heterosexuelle trans Männer, pansexuelle non-binäre Personen, aromantische Jugendliche, inter Omas und ja – selbstverständlich am Schluss und indirekt – auch der heterosexuelle cis Mann. In diesem Sinne bringen solche Haarspaltereien um die korrekteste Geschlechterdefinition und Streitereien um staatliche Unterstützungsbrosamen nicht weiter. Es ist genügend Geschlechterkuchen für alle da.

Ausserdem:
10 Fragen zum Gesetz an Elisabeth Joller, Rechtsanwältin
10 Fragen zu Chancen an Anika Thym und Matthias Luterbach, Forscher:innen

Hintergrund:
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Die Fragen gestellt hat Johannes Sieber.