Nemo gewinnt den Eurovision Song Contest und die Forderung nach einer 3. Option beim amtlichen Geschlechtseintrag wird auf die Titelseiten der Leitmedien katapultiert. Das gefällt mir. Doch wie so oft bei komplexen politischen Fragestellungen kracht es bei der Diskussion darüber heftig. Darum hier ein paar Gedanken zum Thema. Inputs, die beim Meinungsbildungsprozess beachtet werden können. Ein Angebot.
1. Diskussion über die Anzahl der Geschlechter nicht hilfreich
- Über die Frage, wie viele Geschlechter es gibt, streitet sich nicht nur die Sozialwissenschaft mit der Wissenschaft der Biologie, auch Biolog:innen sind sich nicht einig, inwiefern sich von der biologischen Geschlechtsdefinition (Chromosomen, Hormone, Geschlechtsmerkmale) auf das Geschlecht eines Menschen schliessen lässt. Dieser Streit ist alt und führt zu keiner Lösung in der Frage, ob eine 3. Option beim amtlichen Geschlecht Sinn macht.
- Wenig förderlich sind dabei auch die sprachlichen Herausforderungen. Während im Englischen wenigstens zwischen «gender» (soziales Geschlecht) und «sex» (biologisches Geschlecht) unterschieden wird, ist im Deutschen nur «Geschlecht» verfügbar. Zwar etablierte sich zwischenzeitlich neben «Geschlecht» auch der Begriff «Gender», was aber nicht alle Missverständnisse aus dem Weg räumt: So wird «Geschlecht» oft mit «sex» gleich gesetzt, was wiederum das biologische Geschlecht als Grundlage des menschlichen Geschlechts nahelegt. Es lohnt sich darum präzise zu sein und die Begriffe «Gender» und «biologisches Geschlecht» ausdrücklich zu differenzieren.
- Ebenfalls präzise formuliert werden sollte, worum es hier geht: Um eine «3. Option beim amtlichen Geschlechtseintrag». Es handelt sich hier um eine 3. Option neben den heute möglichen Einträgen «männlich» und «weiblich». Es geht nicht um ein drittes Geschlecht.
2. Kritik an einer zusätzlichen Eintags-Option «divers»
- Die Herausforderung «Geschlechtsdysphorie» ist ein Unbehagen oder Stress im Zusammenhang mit einer Inkongruenz zwischen der Geschlechtsidentität einer Person und dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Wenn wir diese Herausforderung ernst nehmen, müssen wir im Zusammenhang mit der 3. Option verlangen, dass auch kein Eintrag möglich ist. Dass also auf einen amtlichen Geschlechtseintrag verzichtet werden kann. So können Eltern ihrem Kind offen lassen, ob und welchem Geschlechtseintrag es sich später zuweisen will.
- «divers» als 3. Option wäre ein Sammelbegriff für alle, die sich weder als männlich noch weiblich verstehen und dieses Verständnis amtlich registriert wissen wollen. Es ist fraglich, ob die Identifikation mit «divers» nicht ähnliche Zuweisungsherausforderung mit sich bringt, wie «männlich» und «weiblich». In meinen Verständnis von Nonbinarität würde kein Eintrag besser passen.
- Um Identiäten tatsächlich abzubilden, müsste die Ausformulierung der dritten Option frei wählbar sein. Es liesse sich dann nicht bloß «divers» eintragen sondern sämtliche identitätspolitischen Begriffe. Administrativ aufwändig, aber mit 26 Buchstaben im Alphabet umsetzbar.
3. Gleichstellungspolitische Hürden
- Sämtliche gleichstellungspolitischen Statistiken (und bis zur Erweiterung der Gleichstellungsgesetze auch die Massnahmen) beruhen auf dem amtlichen Geschlechtseintrag. Es ist nicht vorbehaltlos im Interesse der Frauenförderung, diese Grenzen zu verwischen. Insbesondere dann, wenn Männer* als «divers»-Eingetragene sich Vorteile von Frauen* aneignen könnten. Bsp. kein Militärdienst. Gleichzeitig möchten Frauen*, die sich «divers» eintragen lassen, ihre Privilegien nicht verlieren.
- Emotional wird diese Diskussion in Bezug auf Schutzräume geführt. Frauen* wie auch Männer* wollen diese aus guten Gründen nicht aufgeben. Dieses Bedürfnis ist ernst zu nehmen und stellt eine grosse Herausforderung bei der Umsetzungn der hier diskutierten Entgrenzung dar.
- Aus diesem Grund wird es bis auf weiteres auch schwierig, die amtlichen Geschlechtseinträge ganz abzuschaffen. Auch wenn dies aus liberaler Perspektive das Richtige wäre. Denn was geht den Staat mein Geschlecht überhaupt an? Ich finde nichts. Doch so lange das Geschlecht von Frauen* und Männern* amtlich repräsentiert wird, steht das auch allen andern zu.
Foto zur Notiz: Presskit Nemo, Foto von Ella Mettler